David Cronenbergs kühne Zukunftsparabel ist ein Film, der buchstäblich unter die Haut geht. Allerdings hält sich der Erkenntnisgewinn des Metapherngewitters aus Philosphemen und Gedärm in Grenzen und verliert durch die extreme Künstlichkeit viel von seiner visuellen Wucht.
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Eine Filmkritik von Joachim Kurz
Unter die Haut?
Mit Hochspannung wurde in Cannes vor allem David Cronenbergs neuer Film „Crimes of the Future“ erwartet. Das lag keineswegs nur den vorherigen Äußerungen des kanadischen Meisters des Body Horror, der ein wenig albern zahlreiche „Walkouts“ vorhersagte, als sei das Aufschrecken des Publiku*ms bereits ein Qualitätsmaßstab. Es hatte vor allem damit zu tun, dass die Informationen und der Trailer eine Rückkehr zu den Wurzeln versprach. Und gerade in (post)pandemischen Zeiten erscheint das sezierende Erkunden von Körpern und deren Erweiterungen ein möglicher Denkweg, der Fragilität des menschlichen Seins auf die Schliche zu kommen.
Die erste Grausamkeit, mit der Crimes of the Future beginnt, ist weniger eine visuell explizite als vielmehr ein bewusst moralischer Tabubruch: Weil ihr Kind eine offensichtliche genetische (oder vielmehr evolutionäre) Abnormalität aufweist – ihr Sohn ist in der Lage, Plastik zu essen und zu verdauen, was angesichts der ökologischen Katastrophe eigentlich keine schlechte Eigenschaft ist –, erstickt dessen Mutter es im Schlaf. Das Zucken der Beine und ein anschließendes Telefonat der Mörderin, in dem sie das Kind bar jeder Humanität als reines Ding beschreibt, sind eine von vielen Szenen, die man nur schwer erträgt.
Nach diesem Auftakt wechselt der Film zum Künstlerpaar Saul (Viggo Mortensen) und Caprice (Léa Seydoux), die sich auf eine ganz besondere Art von Performances spezialisiert haben: Saul verfügt über die Fähigkeiten und den Fluch, durch eigene Willenskraft neue Organe innerhalb seines Körpers zu entwickeln und zu erschaffen, die ihm anschließend von seiner Partnerin in aller Öffentlichkeit operativ entfernt werden. Wie der erstickte Junge am Anfang des Films, so verfügt auch Saul über das Vermögen, sich in der Evolution vorwärts zu bewegen und zukünftige biologische und physiologische Entwicklungsschritte der Menschheit vorwegzunehmen. Zu den Veränderungen, die Einzelpersonen wie Saul und das Kind auszeichnen, gesellt sich der allgemeine Verlust des Schmerzempfindens, was Körpermodifikationen beinahe schon normal erscheinen lässt. Da gibt es dann einen weiteren Künstler, dessen Körper mit Ohren übersät ist und der sich für seine Tanzperformances die Augen und den Mund zunähen lässt.
Ein solcher buchstäblicher Wildwuchs muss natürlich auch gebändigt und in die richtige Richtung gelenkt werden, um den gewünschten Fortgang der Evolution sicherzustellen – und so wird gerade eine Behörde aufgebaut, in der die neuen Organe von Menschen wie Saul registriert werden sollen und die von dem Bürokraten Wippet (Don McKellar) und dessen Assistentin Timlin (Kristen Stewart) geführt werden.
Es ist eine seltsam anmutende, höchst artifizielle und über weite Strecken trotz eines beachtlichen Budgets merkwürdig billig aussehende Welt, in die David Cronenberg uns in seinem neuen Film entführt. Und genau hierin liegt eines der zahlreichen Probleme des unterm Strich recht enttäuschenden Werkes. Es fehlt an Emotionalität und Empathie, die diese Welt spür- und nachvollziehbar macht. Alles wirkt hier kalkuliert und aufgrund zahlreicher, mitunter recht banaler Statements wie „Surgery is the new sex“ (wobei dem Film gleichzeitig genau diese sexuelle Komponente völlig abgeht) und extremer Marinismen wie etwa der recht albernen anmutenden Sprechweise von Kristen Stewarts Rolle fast schon (unfreiwillig) komisch. Im Vergleich mit dem letztjährigen Cannes-Gewinner Titane, der ebenfalls als Interpretation des Body Horror Cronenbergscher Prägung mit spezifisch weiblicher Perspektive gesehen werden kann, wirkt Crimes of the Future wie ein altbackener Aufguss altbekannter Versatzstücke ohne großen Erkenntnisgewinn.
In einer zukünftigen Welt durchlaufen die Menschen das „Accelerated Evolution Syndrome“, das „Beschleunigte Evolutionssyndrom“, das bei ihnen unterschiedlichste körperliche und mentale Veränderungen zur Folge hat. Einige Menschen kommen mit ihren neuerworbenen Fähigkeiten zurecht, andere versuchen sie zu unterdrücken.
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